Frieden mit dem Essen schließen ist an sich herausfordernd genug. Was aber, wenn noch eine Neurodiversität wie beispielsweise AD(H)S oder Autismus hinzukommt? Der Begriff Neurodiversität beschreibt die schier unendliche Vielfalt, wie neurokognitive Funktionen im Menschen ablaufen können. Alle menschlichen Gehirne ähneln sich zwar in Aufbau und Struktur, wie ein Gehirn Reize und Informationen verarbeitet kann aber ganz unterschiedlich sein. Wie es auch Unterschiede hinsichtlich der Hautfarbe, des Geschlechts oder der Körpergröße gibt, so sieht das Konzept der Neurodiversität diese neurologische Vielfalt als ganz normalen Ausdruck menschlicher Vielfalt und nicht unbedingt als Störung oder Krankheit. Das soll der Pathologisierung entgegenwirken und damit der Vorstellung, dass neurologische Unterschiede „geheilt“ werden müssten.
Was bleibt, ist die Tatsache, dass neurodivergente Gehirne etwas anders funktionieren, was das (Wieder-)Erlernen des intuitiven Essens erschweren kann. Nichtsdestotrotz bin ich der festen Überzeugung, dass die Intuitive Ernährung für alle ist und an die individuellen Bedürfnisse jeder einzelnen Person angepasst werden kann. Daher schauen wir uns nun die Hindernisse und Hürden an, mit denen neurodivergente Menschen allgemein und Menschen mit AD(H)S im Speziellen beim intuitiven Essen konfrontiert sein können, und welche möglichen Lösungen es dafür geben könnte.
Herausforderungen beim Intuitiven Essen, die sich durch die Neurodivergenz ergeben können
1. Hunger- und Sättigungssignale richtig deuten können
Wenn du AD(H)S hast oder neurodivergent bist, hast du möglicherweise kein gutes Gespür für deine Hungersignale und kannst Sättigung erst so richtig erkennen, wenn du schon drüber bist. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn du eine Geschichte mit Essstörungen hast oder über viele Jahre Diät gehalten hast. Eventuell fühlst du bei Hunger kein typisches „Grummeln im Bauch“, sondern deine Hungersignale sind sehr viel subtiler und versteckter.
Hier sind einige Beispiele, welche Körperempfindungen auf Hunger hindeuten können:
- Müdigkeit
- Schwindel
- Mangelnde Fokussierung oder „nicht mehr richtig konzentrieren können“ (ist allerdings auch unabhängig von Hunger ein Thema bei AD(H)S)
- Zittern
- Reizbarkeit (schon mal den Begriff hangry gehört?)
- Brain Fog
- Gelüste bzw. die Gedanken kreisen ums Essen
Aber auch bestimmte Medikamente, die bei AD(H)S eingesetzt werden, können die Hunger- und Sättigungssignale beeinflussen. Nimmst du Medikamente ist ein Nichtvorhandensein körperlichen Hungers nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass dein Körper tatsächlich keine Kalorien braucht. Menschen mit Neurodivergenz können sich daher nicht darauf verlassen, dass der Körper immer „richtig“ anzeigt, wenn es Zeit ist zu essen.
2. Fehlende Tages-/Mahlzeitenstruktur
Für Menschen mit AD(H)S kann Selbstorganisation und Zeitmanagement eine große Herausforderung sein und ein gewisses Maß an Struktur und Ordnung im Alltag umzusetzen. Nicht zuletzt kann ein regelrechtes Chaos im Kopf vorherrschen. All das macht es natürlich nicht gerade einfacher, regelmäßig zu essen und ausreichend Zeit für die Zubereitung der Mahlzeiten einzuplanen.
3. Essensentscheidungen treffen
Wenn das Hunger- und Sättigungsgefühl aus der Balance gekommen ist und man einfach keinen Appetit verspürt, kann es herausfordernd sein, Essenspläne zu machen oder spontan zu entscheiden, was man essen möchte. Auf der anderen Seite kann es für Menschen mit Neurodivergenz auch schwierig sein, sich bei den vielen Möglichkeiten für die eine Sache, die man essen möchte, zu entscheiden. Das kann dazu führen, dass man eine halbe Stunde hin und her überlegt, was man Schönes kochen möchte und schließlich verzweifelt zur Chipstüte oder dem Schokoriegel greift, weil die Fülle an Essensmöglichkeiten mal wieder überwältigt hat.
Hier darfst du erst einmal ganz viel Druck rausnehmen. Es ist einfach nur menschlich, dass wir nicht immer die „richtige“ Entscheidung treffen. Den Anspruch zu haben, sich immer die leckerste, sättigendste oder ausgewogenste Mahlzeit zubereiten zu wollen, kann nur in der Katastrophe enden. Es ist völlig ok und widerspricht auch nicht der Intuitiven Ernährung, manchmal irgendwas zu essen, das einfach nur als Energiequelle dient. Satt ist immer besser als hungrig!
4. Kochen und exekutive Funktionen
Als exekutive Funktionen werden in der Neurowissenschaft die geistigen Prozesse bezeichnet, die gezielt das Verhalten, die Aufmerksamkeit und die Gefühle steuern. Kochen mit einem AD(H)S-Gehirn kann eine große Herausforderung sein, da es mehr oder weniger ein umfassender Test der exekutiven Funktionsressourcen ist. Kochen erfordert u.a. Planung, zur richtigen Zeit Starten und Stoppen, die Überwachung des Fortschritts, die Anpassung der Geschwindigkeit, Fokussierung und die wechselnde Bearbeitung verschiedener Aufgaben. Das kann für neurodivergente Menschen Überforderung pur bedeuten. Besonders, wenn dann noch zusätzlich etwas hinzukommt, wie das klingelnde Telefon, irgendein Topf kocht über oder irgendeine andere Ablenkung.
Hier kommen Convenience Produkte ins Spiel. Es wird jetzt endlich mal Zeit, die der Clean-Eating-Gehirnwäsche geschuldeten Schamgefühle abzulegen, wenn es um verarbeitete Lebensmittel geht (und wer das nicht für nötig hält, oder Sprüche klopft wie „was ich kann, schaffst du auch“, darf gerne mal die eigenen Privilegien überprüfen). Es ist völlig in Ordnung, es sich so einfach zu machen wie möglich, besonders wenn das bedeutet, regelmäßig und ausreichend zu essen. Das Stichwort hier ist: Vereinfachen, Abkürzungen finden und Routinen etablieren.
5. Essen ohne Ablenkungen
Die Intuitive Ernährung erfordert Achtsamkeit, nicht nur, aber besonders auch beim Essen. Traditionelles achtsames Essen ohne jegliche Ablenkung kann bei Neurodivergenz unerreichbar sein und (wichtig!) muss auch gar nicht angestrebt werden. Damit wir uns auch völlig richtig verstehen: Es ist in Ordnung, beim Essen abgelenkt zu sein oder sogar bewusst eine (eher geringfügige) Ablenkung zu installieren. Bitte glaub nicht, dass du völlig ohne Ablenkungen essen musst und dich die gesamte Zeit auf deine Hunger- und Sättigungssignale konzentrieren musst, die du vielleicht gar nicht richtig spüren kannst. Hast du eine Neurodivergenz, ist das ziemlich wahrscheinlich einfach nur eine Verschwendung deiner Zeit und Energie.
6. Ausreichend Schlaf
Viele Menschen mit AD(H)S haben Schlafstörungen. Einschlafen, ruhig und ungestört zu schlafen, aber auch Durchschlafen können große Herausforderungen sein. Wir wissen, dass Schlafmangel sowohl unsere Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren als auch die Emotionsregulation beeinträchtigen kann. Schlafmangel hat aber auch hormonelle Folgen, die das Hunger- und Sättigungsgefühl aus der Balance bringen kann.
7. Hyperfokus
Hast du schon mal um fünf vor zwölf Uhr mittags den Gedanken gehabt, dass du „das jetzt noch schnell fertig machen musst, damit es abgehakt ist“? Als du dann gefühlt fünf Minuten später auf die Uhr geschaut hast, war es plötzlich halb drei, dein Kopf dröhnte und der Magen hing dir in den Kniekehlen? Typischer Fall von Hyperfokus und sehr häufig bei Menschen mit AD(H)S anzutreffen. Ein Hyperfokus (auf in der Regel spannende Aufgaben oder bei einer wichtigen Deadline, wenn es quasi schon fünf Sekunden vor Abgabe ist) kann dazu führen, dass wir so in eine Aufgabe vertieft sind, dass wir weder unsere äußere Umgebung, noch innere Signale (wie Hunger, Durst und sogar Harndrang) wahrnehmen. Nach einem hyperfokussierten Zeitsprung kann es schon mal vorkommen, dass der Körper plötzlich in einer gefühlten Hungersnot ist, dass Intuitives Essen schlichtweg unmöglich ist.
8. Essen als Regulationsmechanismus
AD(H)S-Gehirne haben ein weniger effizientes Dopaminsystem. Genauer gesagt ist bei AD(H)S das Gleichgewicht der Botenstoffe (Neurotransmitter, besonders Dopamin und Noradrenalin) im Gehirn verändert, die eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle zur anderen spielen. Man geht bspw. davon aus, dass bei ADHS Dopamin im Raum zwischen zwei Nervenzellen, dem synaptischen Spalt, schneller abgebaut wird und deshalb nicht in ausreichender Menge zur Verfügung steht. Warum ist das wichtig? Die Unterversorgung mit diesem Botenstoff führt zu einer beeinträchtigen Informationsweiterleitung zwischen den Nervenzellen. Dadurch werden u.a. Reize nur schlecht und unzureichend gefiltert, das Auftreten neuer Gedanken nicht gehemmt und es fällt schwer, die Aufmerksamkeit auf eine Sache zu konzentrieren. Das Chaos im Gehirn ist schnell perfekt!
Hinzu kommt noch, dass der Zugriff auf vorhandene Fähigkeiten und Informationen eingeschränkt sein kann, sodass vorausschauende Handlungsplanungen erschwert sein können. Zieht man dann noch die permanente Reizüberflutung in Betracht, da alle Eindrücke ungefiltert auf das AD(H)S-Gehirn einstürzen, ist es kein Wunder, dass Menschen mit AD(H)S häufig unter einer chronischen Anspannung stehen. Viele Menschen mit AD(H)S beschreiben, dass sie im Alltag ständig auf der Suche nach dem nächsten „Dopamin-Fix“ sind und sich stärker von vergnügungssüchtigen Verhaltensweisen angezogen fühlen als neurotypische Personen. Dieses starke Bedürfnis nach sinnlichen Freuden kann sich auch in der Auswahl von Lebensmitteln zeigen und Menschen mit AD(H)S dazu bringen, Lebensmittel als Regulationsstrategie einzusetzen.
Was willst du von den Impulsen umsetzen? Schreib es gerne in die Kommentare!
Ich hoffe sehr, du konntest den einen oder anderen Impuls mitnehmen, was du für dich ausprobieren willst. Meine Empfehlung ist: Nimm ganz viel Druck raus. So wie es nicht die eine Neurodivergenz gibt, gibt es nicht die eine richtige Art intuitiv zu essen. Finde das, was zu dir und deinem Leben in diesem Moment passt und denk daran: Jede Mahlzeit ist einfach nur eine weitere Gelegenheit, etwas über dich und deinen Körper zu erfahren! Nutze diese Chance und erlaube dir, neugierig und wertfrei an die Sache ranzugehen.
Herzlichst,
deine Antonie