Fat Shaming funktioniert nicht. Wenn es tatsächlich Menschen beim Abnehmen helfen würde, ihnen zu sagen, dass sie abnehmen sollten, dann gäbe es keine dicken Menschen mehr und erst recht keine milliardenschwere Diätindustrie. Wenn es helfen würde, von einem Arzt gesagt zu bekommen, „wenn Sie nicht endlich abnehmen, werden Sie krank und früher sterben“, wären wir alle dünn. Kaum jemand sucht sich in einer Gesellschaft, die so offensichtlich Körperfett hasst, freiwillig aus, dick oder gar fett zu sein. Es hilft also nicht, dicken Menschen zu sagen, dass sie dick sind und endlich mal abnehmen sollen. Ganz im Gegenteil. Es macht sie krank und leider haben dicke Menschen oft genau dort, wo sie eigentlich Hilfe für ihre gesundheitlichen Beschwerden erhoffen, mit Fat Shaming zu kämpfen: Beim Arzt.

Fettphobie beim Arzt ist leider an der Tagesordnung

Es ist eine traurige Wahrheit, dass es nicht gerade selten vorkommt, dass dicke Menschen beim Arzt aufgrund ihres Körpergewichts mit Vorurteilen zu kämpfen haben. Während bei schlanken Menschen in der Regel sofort nach der Ursache gesucht wird – so, wie man es beim Arzt auch erwarten würde – bekommen dicke Menschen häufig zu hören: „Rückenschmerzen? Nehmen Sie doch erst mal ab.“ „Halsschmerzen? Nehmen Sie doch erst mal ab.“ „Atemnot? Nehmen Sie doch erst mal ab.“ Dicke Menschen werden seltener ernst genommen und müssen im Zweifelsfall härter dafür kämpfen, dass ihre eigentlichen Beschwerden behandelt werden. Dazu kommt noch: Wer schon mal Stigmatisierung und Vorurteile beim Arzt erlebt hat, der geht im Zweifelsfall das nächste Mal nicht mehr hin oder wartet, bis die Krankheit schon fortgeschrittener ist, sodass die Heilungschancen entsprechend schlechter sind. Solange unser Gesundheitssystem dicke Menschen nur als ihren BMI
ansieht und sie anders behandelt als Schlanke, wundert es mich daher nicht, dass sie statistisch gesehen kränker sind.

Jetzt fragst du dich vielleicht: Jemand, mit einem hohen Körpergewicht ist aber doch statistisch gesehen kränker und hat ein höheres Risiko für bestimmte Krankheiten, oder? Ja, das stimmt. Doch es ist oberflächlich zu denken, dass die reine Fettmasse am Körper dafür verantwortlich ist. Wir leben nunmal in einer Gesellschaft, die es verdammt schwierig macht zu unterscheiden, woher dicke Menschen ihre gesundheitlichen Bewerden haben, da das Dicksein automatisch mit Stigmatisierung, Diskriminierung, Stress, Vorurteilen und Weight Cycling einhergeht.

Diskriminierung macht krank - unabhängig vom Körpergewicht

Schlanksein ist ein Statussymbol, das laut Diätkultur durch „bewunderswertes“ und „tugendhaftes“ Verhalten zu erreichen ist. Dadurch dass dieser falsche Glaube so tief in unseren Gedanken verankert ist, sind dicke Menschen jeden Tag Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Mit Schimpfwörtern, schrägen Blicken beim Einkaufen oder Essen, „guten“ Ratschlägen oder Witzen über Dicke wird die Fettphobie in unserer Gesellschaft weiter angeheizt. Fakt ist: Diskriminierung und Stigmatisierung machen krank und verursachen nachweislich Gesundheitsbeschwerden und das ganz unabhängig vom Körpergewicht.

Gleichzeitig wird dicken Menschen eine Scham in den Kopf gepflanzt, dass sie einfach nur „zu blöd“ zum Abnehmen sind und sich „nicht genügend anstrengen“. Sich als Versager zu fühlen und gleichzeitig Druck und Vorurteile von außen zu erfahren, erzeugt großen Stress und dreimal darfst du raten, worauf ich hinauswill: Stress verusacht Gesundheitsbeschwerden ganz unabhängig vom Körpergewicht.

Zudem haben dicke Menschen häufiger mehr Weight Cycling erlebt als schlanke Menschen. Da Diäten in über 95 Prozent der Fälle nicht dauerhaft funktionieren, folgt auf einen kurzen Gewichtsverlust unausweichlich wieder die Gewichtszunahme. Und da sich der Körper für die nächsten schlechten Zeiten vorbereiten will, geht die Gewichtszunahme oft über das Ausgangsgewicht hinaus. Zwei von drei Personen wiegen nach einer Diät mehr als vorher. Tatsächlich lassen sich alle Krankheiten und fast alle Gesundheitsprobleme, die mit einem hohen Körpergewicht in Verbindung gebracht werden, durch Weight Cycling erklären. Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Ja, auch Weight Cycling macht krank und das völlig unabhängig vom Gewicht.

Würdest du ein Medikament nehmen, das gerade mal bei 5 von 100 Menschen wirkt?

Es geht daher einfach nicht in meinen Kopf, warum Ärzte immer noch Diäten „verschreiben“. Sie würden doch auch kein Medikament verschreiben, das bei höchstens 5 von 100 Patienten wirkt und dann meist nur geringfügig. Sie würden doch auch kein Medikament verschreiben, das fast sichere Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Müdigkeit, Stimmungsschwankungen, Aggressivität und Verdauungsprobleme zur Folge hat? Und ganz sicher würden sie kein Medikament verschreiben, das bei langfristiger Anwendung die genau gegenteilige Wirkung hat, die sie damit eigentlich erreichen möchten. Aber genau das tun Ärzte, wenn sie ihre Patienten auf Diät setzen.

Klar gibt es Mediziner, die verstehen, dass die meisten Erkrankungen auch ohne Gewichtsverlust erfolgreich behandelt werden können. Es gibt sogar Ärzte, die wissen, dass die Gewichtsforschung stark vorurteilsbehaftet ist und das Fett gar nicht das böse Gesundheitsproblem ist, als das es dargestellt wird. Ja, es gibt diese Informationen da draußen und wer anfängt, danach zu suchen, wird sie finden. Es gibt die Studien, die zeigen, dass Fat Shaming gesundheitsschädlich ist und es nicht sinnvoll ist, sich nur auf das Gewicht zu konzentrieren.

Die meisten deiner Beschwerden kann dein*e Arzt*in behandeln, ohne dein Gewicht zu kennen

Und doch gibt es so viele Ärzte, die ihre Patienten jedes Mal auf die Waage steigen lassen, wenn sie in die Praxis kommen. Für die meisten ist es einfach ein etabliertes Ritual. Es „gehört irgendwie dazu“. Doch genauso wie es für deine Behandlung keinen Unterschied macht, ob dein Arzt einen weißen Kittel anhat oder ein buntes Polo-Shirt, ist gewogen zu werden meist kein Bestandteil einer notwendigen medizinischen Versorgung (außer beispielsweise wenn das zu verschreibende Medikament nach Körpergewicht dosiert werden muss). Du hast also das Recht, nein zu sagen und den Gang auf die Waage auszulassen.

Natürlich soll dich das jetzt nicht ermutigen, alle Anweisungen deines Arztes in den Wind zu schlagen. Es ist wichtig, gut zuzuhören, die Handlungsempfehlungen zu verstehen und darauf basierend möglichst gemeinsam eine informierte Entscheidung zu treffen. Im besten Fall hast du einen Arzt, der dich als Menschen sieht und nicht deinen BMI und dem du hundertprozentig deine Gesundheit anvertrauen kannst. Wenn du also nachfragst, ob es wirklich nötig ist, gewogen zu werden, dann nicht, weil du dich deinem Arzt widersetzen willst. Meistens kannst dir den Schritt auf die Waage einfach deshalb sparen, weil das Gewicht bei den meisten Menschen nur sehr wenig über ihre Gesundheit aussagt und eine gesunde Lebensweise ohne Zielgewicht auskommt.

Achtung: Das ist kein ärztlicher Rat! Das soll dich ermutigen, nach dem Grund zu fragen, warum du gewogen werden sollst, um dann im Anschluss eine informierte Entscheidung treffen zu können. Und selbst, wenn es notwendig ist, dass du auf die Waage steigst, kannst du immer noch darum bitten, dass dir das Gewicht nicht gesagt wird.

Wie sagst du nein zur Waage?

Du bist also nicht alleine, wenn es dich stresst, dich jedesmal beim Arzt auf die Waage zu stellen und du weißt jetzt, wenn du nicht möchtest, dann musst du dich bei einer Kontrolluntersuchung nicht von deinem Arzt wiegen lassen. Nur wie sprichst du dieses Thema bei deinem Arzt an? Verständlicherweise ist das schwierig, da sie*er eine Autoritätsperson ist und du möglicherweise auf die Versorgung angewiesen bist. Daher kannst du ab sofort eine Karte für dich sprechen lassen.

Auf der Seite https://more-love.org/ kannst du Visitenkarten bestellen, mit denen du deinen Arzt bitten kannst, dich nicht zu wiegen. Auf der Rückseite der Visitenkarte steht die Erklärung dazu, warum du es ablehnst, gewogen zu werden. Leider gibt es diese Karten im Original nur auf Englisch, daher habe
ich sie für dich ins Deutsche übersetzt. Du kannst die Karte ausdrucken
und sie in deinem Geldbeutel oder deiner Handtasche aufbewahren als
keine Erinnerung, dass es völlig ok ist, sich beim Arzt nicht
automatisch auf die Waage zu stellen. Oder du reichst sie bei deinem
nächsten Arztbesuch über den Behandlungstisch beziehungsweise kannst du sie bei der Anmeldung auch gleich der Sprechstundenhilfe geben.

Anleitung: Word-Dokument herunterladen (ich stelle es dir extra als Word-Dokument zur Verfügung, sodass du bei Bedarf vor dem Ausdrucken noch die Größe ändern kannst). Auf DinA 4 ausdrucken, entlang der grauen Linie ausschneiden und in der Mitte knicken. Fertig.

So wehrst du dich gegen Fettphobie

Wenn du mehr darüber erfahren willst, wie du dich gegen Gewichtsstigmatisierung und Fat Shaming beim Arzt wehren kannst (denn genau das löst das Wiegen eines mehrgewichtigen Menschens beim Arzt häufig aus), hör doch mal in Podcast-Episode Nr. 11 „Diet Talk ade – Wie du dich vor Unterhaltungen über Gewichtsabnahme und Diäten schützt“ rein. Dort bekommst du nicht nur ganz konkrete Antworten, was du beim Arzt sagen kannst, sondern auch viele weitere Reaktionsmöglichkeiten in vielen anderen Situationen.

Iss doch, was du willst! Podcast Episode 11: Diet Talk ade

Und ich habe noch ein weiteres Freebie für dich, das dir dabei hilft, nie wieder sprachlos zu sein, wenn du auf Vorurteile und Stigmatisierung triffst: Mit den „4 x 10 Antworten gegen Fettphobie und Bodyshaming“ weißt du ab sofort in jeder Situation, wie du dich verbal wehren kannst. Du kannst sie dir als E-Book, Poster oder Taschenkarten für unterwegs kostenlos herunterladen:

Und zum Schluss habe ich noch eine kleine Bitte an dich ...

Falls du schlank bist und eigentlich kein Problem damit hast, dich beim Arzt auf die Waage zu stellen oder noch nie Gewichtsstigmatisierung im Gesundheitswesen erlebt hast, dann kannst du trotzdem ablehnen, dich wiegen zu lassen. Warum? Jedes Nein zur Waage ist ein wichtiger Schritt in Richtung gewichtsneutrale Gesundheitsvorsorge und Behandlung.

Setze dein Privileg ein und helfe mit, es zur Normalität werden zu lassen, beim Arzt nicht gewogen zu werden (außer natürlich, es ist medizinisch absolut notwendig). Ich danke dir von ganzem Herzen!

4 thoughts on “Fettphobie beim Arztbesuch: Wie du damit umgehst und was du dagegen tun kannst

  1. Danke für den Artikel. Wissen Sie, ob es in Deutschland eine Liste mit „Safe“ Ärzte gibt für PatientInnen, die eben nicht fatshamed werden wollen?
    Danke im Voraus

    1. Eine solche Liste gibt es – soweit ich weiß – bisher leider nicht in Deutschland, zumindest nicht fachübergreifend. Es gibt @gynformation auf Instagram, dort wird eine Liste an Gynäkolog:innen bereitgestellt, das ist zumindest schon mal ein toller Anfang. Wir haben schon oft darüber geredet, dass es das geben sollte, es ist aber so schwierig das umzusetzen. Dafür braucht es nicht nur Geld, Ressourcen und Menschen, die die Liste ständig aktualisieren, sondern es muss ja auch eine Art Qualitätskontrolle durchgeführt werden bzw. müssten sich die Menschen auf der Liste bestimmten Prinzipien verpflichten, die man festlegen müsste etc. Ich hoffe sehr, dass sich bald jemand dieser Mammutaufgabe annimmt, wie es bspw. gerade die ASDAH macht: https://asdah.org/haes-professional/ Ich weiß auch, dass meine Kollegin Cornelia Fiechtl mal angefangen hat, Daten für eine solche Liste zu sammeln und ich glaube Jules Kremer @schoenwild hat mal eine Umfrage gemacht und Adressen gesammelt. Ich weiß aber nicht, was bei den beiden daraus geworden ist…

  2. liebe Frau Dr. Post!

    ich war am vergangenen Mittwoch zu meiner Ärztin gegangen, wegen meinem Lymphstau, Juckreiz, Schmerzen, zeitweilig auch Schüttelfrost und Fieber, da ich von unbekannten Insekten gestochen wurde. ich habe erstmal zwei Stunden warten müssen und nachher auch noch lange warten müssen im Sprechzimmer. Endlich als sie kam, sagte sie zu mir, wegen den Rückenschmerzen. ich erwiderte, ja das auch und zeigte ihr meine zerstochenen Beine und Abdomen. sie tastete nur und sagte zu mir, dass sei ein Lymphödem aufgrund meines Übergewicht! Sie machte weder einen Ultraschall oder eine Blutprobe auf die Erreger hin! Sie verschrieb mir zwar Lymphdrainage und einen Rollator aber nichts gegen meinen furchtbaren Juckreiz! Als ich sie darum bat, mir was aufzuschreiben wegen dem Juckreiz, meinte sie nur, dass der verschwindet nach ein paar Sitzungen Lymphdrainage. Sie machte auch nichts gegen meine starke Ischialgie, sondern verließ mich aus der Praxis, ohne mir wirksam geholfen zu haben. Ohne mich richtig untersucht zu haben. Ich kam mir wie gelackmeiert vor. Hatte in der letzten Nacht wieder Krämpfe im Bein und furchtbaren Juckreiz. Ich weiß nicht mehr weiter! Komme mir wie gebrandmarkt vor….

    1. Es tut mir so leid, dass Sie das erleben mussten. Ich würde so gerne sagen, dass das die Ausnahme ist, aber leider habe ich mittlerweile so viele Rückmeldungen von Klient:innen, Hörer:innen und Follower:innen, dass das wirklich an der Tagesordnung ist. Sie haben so sehr versucht, für sich einzustehen und Ihre Bedürfnisse zu kommunizieren und Ihre Ärztin hat all das einfach so beiseite gewischt. Ich frage mich, was sie einer schlanken Patient:in in Ihrer Situation empfohlen hätte? Und selbstverständlich gibt es Salben gegen Juckreiz, es ist mir unbegreiflich, warum Sie Ihnen keine verschrieben oder zumindest empfohlen hat! Absolut unbegreiflich! Manche meiner Patient:innen machen gute Erfahrungen mit den „Bitte nicht wiegen“-Karten und wappnen sich für den Arztbesuch mit den 4×10 Antworten gegen Fettfeindlichkeit. Haben Sie sich die Freebies schon heruntergeladen? Falls nicht, hier ist der Link: https://antoniepost.de/freebies/ Was ich auch schon gemacht habe für meine Klient:innen ist, dass ich bei ihrer Gesundheitsdienstleister:in angerufen oder eine Email geschrieben habe, in der ich um gewichtsneutrale Behandlung gebeten hatte. Es liegt noch so viel Arbeit vor uns…

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