Wie mein Essverhalten ist auch mein Bewegungsverhalten zu meinen Diätzeiten zwischen den Extremen hin und her gependelt. Die Mission war wechselweise „möglichst viele Kalorien verbrennen“, „Mahlzeiten verdienen“ oder „den Körper formen“. Häufig ging es auch um Wiedergutmachung oder Bestrafung, auch wenn ich das damals natürlich nicht so gesehen habe. Bewegung aus Spaß zählte nicht. Wenn ich Sport machte, musste er effektiv sein. Das Ziel war kein geringeres als das gefotoshoppte Sixpack auf dem Cover der größten deutschen Fitnesszeitschrift. Ob das überhaupt realistisch für meinen Körper war, interessierte mich nicht die Bohne. 

Mit jeder neuen Ernährungsumstellung und mit jedem neuen Plan, wie ich diesmal endlich meinen Traumkörper erreichen würde, stürzte ich mich voll rein. Ich trainierte hart, überforderte mich auf regelmäßiger Basis und hörte nicht auf meinen Körper. Scheiterte mein ach so toller Plan, schwang das Pendel mit Überschallgeschwindigkeit in die andere Richtung und aus dem Sportzwang wurde die völlige Bewegungsverweigerung. Bis ich die Prinzipien der Intuitiven Ernährung entdeckt habe und mir endlich die Erlaubnis geben konnte, mich nicht zu bewegen und mich zu fragen, was ich eigentlich möchte und brauche in Bezug auf Bewegung.  

Unterfordere dich zur Abwechslung mal aktiv

Nur noch mal zum Verständnis: Selbstverständlich darfst du dir einen Trainingsplan machen und direkt mit Bewegung mehrmals pro Woche loslegen, wenn es das ist, was sich für dich gut anfühlt. Du kannst dir feste Termine in deinen Kalender eintragen oder dich mit einem lieben Menschen zu Bewegung verabreden oder was auch immer dich zu Bewegung motiviert. Wenn du dir aber immer wieder vornimmst, dich mehr zu bewegen und du es einfach nicht umgesetzt bekommst, ist das vielleicht nicht der richtige Weg für dich. Mein Vorschlag: Probiere es doch mal zur Abwechslung mit aktiver Unterforderung. Anstatt dich zu zwingen, deinen Körper zu bewegen oder dich schuldig zu fühlen, nimm dir jetzt eine Auszeit von Bewegung, wenn du das möchtest. Das gehört bei ganz vielen Menschen dazu und ist Teil deiner Heilung, wenn sie ihre Diätmentalität ablegen wollen. Von diesem Ort der vollständigen Erlaubnis, dich nicht zu bewegen, kannst du überhaupt nur anfangen, darauf zu hören, ob dein Körper gerade nach Bewegung oder nach Ruhe verlangt. Wenn du die ganze Zeit immer nur im Kopf hast „ich muss“, dann hat es keinen Platz für „ich brauche“ oder „ich will“.

Willenskraft ist eine erschöpfbare Ressource

So soll sich Bewegung aber überhaupt nicht anfühlen. Bewegung darf Spaß machen und sollte etwas sein, worauf du dich freust und du gar nicht auf den Gedanken kommst, dass dir dein Schweinehund überhaupt dabei im Weg stehen könnte. Falls es aber für dich aber immer noch die Regel ist, dass du dich öfters überwinden musst als du dich darauf freust, dann hast du wahrscheinlich immer noch irgendwelche Regeln oder Körperformungs-Gedanken in Bezug auf Bewegung und zwingst dich aus rationalen Gründen dazu und nicht, weil die Motivation aus dir selbst kommt. Schweinehund? Das geht mir zu sehr in die Willenskraftschiene und wir wissen längst, dass Willenskraft eine erschöpfbare Ressource ist. Wenn du dich wirklich regelmäßig aus Freude bewegen willst, dann brauchst du eine andere Motivation. Das kann zum Beispiel Spaß an einer bestimmten Bewegung sein oder du formst eine Angewohnheit, und zwar in einer Weise, dass dein Gehirn diese nicht als Zwang ansieht und gar nicht das Bedürfnis hat, dagegen zu rebellieren. 

Mini-Ziele bringen dich Stück für Stück weiter – ohne, dass es wehtut

Dadurch, dass du dir damals viel zu viel vorgenommen hast, bist du deinem Ziel, fitter zu werden, kein Stück nähergekommen. Zeit, dich aktiv zu unterfordern! Was meine ich damit? Setze dir stattdessen Mini-Ziele. Die die Änderung zu deinen bisherigen Gewohnheiten soll so klein sein, dass es nicht weh tut. Wenn du deine Absicht formulierst und dein Gehirn dann sagt „Ha, so ein Unsinn, da brauche ich doch gar nicht anfangen“, dann weißt du, dass du dein Ziel genau richtig gesetzt hast. Zählt nicht, gibt’s nicht. Auf lange Sicht gesehen, zählt alles. Du kannst bspw.

  • 3x pro Woche 5 min im Stehen telefonieren,
  • dich 2x pro Woche 10 Minuten dehnen oder einen kleinen Spaziergang machen,
  • 1x pro Tag 2 min Tanzen,
  • hin und wieder am Schreibtisch die Fersen und Zehen auf- und abwippen oder
  • 1x pro Tag auf Zehenspitzen oder im Ausfallschritt in die Küche gehen und einen Kaffee holen
  • 1x pro Woche die Yoga-Matte rausholen und dich 15 min ohne jegliche Ablenkung auf die Matte legen oder setzen. Falls dir das zu langweilig ist, kannst du auch ein bisschen sanftes Streching machen, ein paar Gymnastik-Übungen oder einen kleinen Yoga Flow. Du entscheidest!

Bewegung ist keine moralische Verpflichtung

Was mir noch ganz wichtig ist: Bewegung kann einen sehr positiven Einfluss auf deine Gesundheit haben, du bist aber in keiner Weise verpflichtet, dass Bewegung eine Priorität oder auch nur ein Bestandteil deines Lebens ist. Bewegung aus Freude – aber nicht unbedingt aus Zwang – macht gesünder und glücklicher, erhöht die Lebenserwartung und fördert die geistige Gesundheit. Die Diätkultur trägt jedoch aktiv dazu bei, Menschen die Lust an Bewegung zu nehmen und als i-Tüpfelchen gibt’s die Schuld für die eigene „Disziplinlosigkeit“ noch obendrauf. Es gibt eine 2012 eine an der Universität von Alberta (Kanada) durchgeführte Studie, die zeigt, dass Student*innen, die zuvor eine Folge „The Biggest Loser“ angesehen hatten, bei der Befragung im Anschluss eine negativere Einstellung zu Bewegung hatten als die Teilnehmer*innen, die eine andere Fernsehshow angesehen hatten. 

Falls du „The Biggest Loser“ nicht kennst: Das ist Diätkultur in ihrer Reinform. Die Teilnehmer:innen während dieser mehrwöchigen Abnehmshow essen extrem wenig und trainieren stundenlang pro Tag. Sie kämpfen, sie leiden, sie überanstrengen sich und die Zuschauer:innen verinnerlichen, dass Bewegung eine grauenvolle Erfahrung ist, bei der man sich selbst an die eigenen Grenzen bringen und extreme Leistungen vollbringen muss. Arbeiten wir lieber daran, die Verknüpfung zwischen Bewegung und Quälerei in deinem Kopf aufzulösen und Bewegung wieder (oder vielleicht auch das erste Mal im Leben) als freudige Angelegenheit anzusehen, die deinem Körper guttut.

Jetzt bist du dran!

Falls du dich mehr oder auf einer regelmäßigen Basis bewegen willst, denke mal darüber nach, welche Möglichkeiten du hast, ein bisschen Bewegung in deinen Alltag einzubauen. Es sollten Dinge sein, die dir Spaß machen und die du nebenbei machen kannst, ohne groß darüber nachzudenken. Mache dir eine Liste an Mini-Aktivitäten, die für dich infrage kommen, suche dir dann eine Bewegung davon aus, setze dir das Ziel so, dass dein Gehirn sagt, das sei viel zu wenig und analysiere nach einer Woche – wie immer als neutrale:r Beobachter:in und liebevoll – wie es dir damit ergangen ist. Falls du dich in der fraglichen Woche nicht so viel bewegt hast, wie du es eigentlich vorhattest, überlge mal, welche Hindernisse dir im Weg standen.

Stell dir dafür die folgenden Fragen:

  • Wie würde es sich anfühlen, wenn du dir mehr Ruhetage erlaubst? Was würde sich dann in deinem Leben ändern?
  • Bewegst du dich momentan regelmäßig? Welche Aktivitäten sind das und wie häufig und wie lange machst du sie in der Woche/im Monat?
  • Macht dir diese Art der Bewegung, die du regelmäßig machst, Spaß? Was könntest du tun, damit sie noch mehr Spaß macht, z. B. würdest du gerne die Intensität verändern, die Häufigkeit oder dir ein vielleicht anderes Ziel setzen? Wenn du mal alle „ich sollte“ Gedanken und eventuelle Schuldgefühle zur Seite schiebst, würdest du diese Art der Bewegung/diese Aktivität trotzdem machen?
  • Gibt es medizinische Indikationen dafür, dass du bestimmte Aktivitäten oder Arten der Bewegung machen musst, obwohl du keinen Spaß daran hast? Was hast du davon, sie trotzdem zu machen?
  • Falls du einen Bewegungs- oder Workout-Plan hast und diesen momentan nicht loslassen kannst, gibt es eine Möglichkeit, diesen mit ganz viel Selbstfürsorge und Respekt deinem Körper gegenüber umzusetzen? Was könntest du an diesem Plan verändern, um deine Bedürfnisse noch mehr zu achten und zu respektieren?
  • An welchen Arten von Bewegung könntest du (noch) Spaß haben? Wolltest du schon immer etwas bestimmtes ausprobieren? Hast du früher eine bestimmte Art der Bewegung gemacht und sie aus bestimmten Gründen aufgehört (z. B. Zeit, Geld, Gelegenheit …), der du nochmal eine Chance geben möchtest?
  • Nach welcher Art der Bewegung sehnt sich dein Körper gerade? In diesem Moment? In diesem Abschnitt deines Lebens? Von welcher Art der Bewegung träumst du? Wie könntest du diesen Traum umsetzten, dass er im Rahmen deiner Möglichkeiten liegt?

Ich wünsche dir viel Spaß dabei, dich und deinen Körper besser kennenzulernen.

Herzlichst,
deine Antonie

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Foto von Kate Stone Matheson auf Unsplash

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