„Ein bisschen dick ist ja ok, aber so richtig fett, das ist sicher nicht gesund.“ Das ist ein Satz, der mir immer häufiger begegnet – selbst von eingefleischten Verfechterinnen der Body-Positivity-Bewegung. Spätestens wenn das Körpergewicht so hoch ist, dass jemand nur noch schnaufend die Treppe hochkommt oder eine Krankheit entwickelt, die dem Gewicht „zugeschrieben“ wird, dann hört es auf mit der Body Positivity und die Gewichtsstigmatisierung beginnt. Doch es gibt eine Möglichkeit, sich zumindest teilweise vor den Hänseleien und der Diskriminierung zu schützen: Man wird Mitglied im Club der „guten Dicken“.
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Niemand ist dick, weil er zu viel isst und sich zu wenig bewegt
„Gute“ und „schlechte“ Dicke? Was ist das denn für ein Quatsch, magst du vielleicht jetzt denken. Doch lass mich erklären. Die „schlechten Dicken“, das sind diejenigen, die „selbst schuld“ an ihrer Lage sind. Sie „lassen sich gehen“ und hocken „faul“ auf der Couch, spielen Computer oder ziehen sich einen Serienmarathon rein. Das sind die, die sich „willensschwach“ mit Chips und anderem Knabberkram „vollstopfen“. Es gibt sogar Menschen, die gar nicht (mehr) versuchen abzunehmen, die „aufgegeben“ und „ihr Schicksal akzeptiert“ haben und es doch tatsächlich wagen, sich selbst zu akzeptieren und zu lieben. Das sind die „besonders bösen Dicken“.
Denn schließlich braucht es nur ein bisschen Disziplin, um seine Traumfigur zu erreichen, oder? Nein. Auch wenn es uns von der Diät- und „Wellness“-Industrie anders verkauft wird: Man entwickelt kein hohes Körpergewicht, nur weil man zu viel isst und sich zu wenig bewegt. Daher stehen die negativen Eigenschaften, die unsere Gesellschaft dicken Menschen zuschreibt, auch in Anführungszeichen. Es gibt viele Faktoren, die zu einem hohen Körpergewicht beitragen und nur die wenigsten lassen sich durch das eigene Verhalten beeinflussen. So können beispielsweise bestimmte Medikamente auf das Gewicht wirken, aber auch Alter, Geburtsgewicht, soziales Umfeld und Gene spielen eine Rolle.
Daher funktioniert es langfristig gesehen auch nur für einen Bruchteil der Abnehmwilligen, durch eine Kalorienreduktion, „Ernährungsumstellung“ oder Diät das Gewicht zu reduzieren und zu halten. Gewicht ist kein Verhalten und wer das glaubt, macht sich letztendlich nur zum Sprachrohr der Diätkultur. Das einzige, was sich am Gewicht einer Person ablesen lässt, sind die eigenen Vorurteile.
Dicke brauchen Überlebensstrategien gegen Stigmatisierung
Gewichtsstigmatisierung ist allgegenwärtig und so ist es kein Wunder, dass dicke Menschen „Überlebensstrategien“ entwickeln, um ihr zu entgehen: Sie werden zum „guten Dicken“. Ein sogenannter „good fatty“ ist ein dicker Mensch, der zwar nicht unbedingt gesellschaftlich akzeptiert, aber zumindest toleriert wird. Schließlich kann er nichts dafür, dass er dick ist und/oder tut alles, um dünn zu werden. Die Gesellschaft lehrt uns, dass Dicksein etwas Vorübergehendes sein sollte: In jedem dicken Körper ist ein schlanker Mensch verborgen, der nur darauf wartet, befreit zu werden.
Die Gesellschaft sieht Dicke als schlanke Menschen, die einfach nicht besonders gut darin sind, dünn zu sein. Sie ist der Meinung, dass jeder für sein Körpergewicht „selbst verantwortlich“ ist. Die Diätkultur lobt diejenigen, die „es schaffen“ schlank zu sein und verurteilt diejenigen, die dick sind. Dicksein ist also eine „persönliche Verfehlung“, doch wer lässt sich schon gerne als Versager abstempeln? Und hier kommt der „gute Dicke“ ins Spiel. So wie beispielsweise Männer allein durch ihr Mannsein Vorteile in unserer Gesellschaft gegenüber Frauen haben (engl. male privilege) oder schlanke Menschen häufig besser behandelt werden als dicke (thin privilege), kann sich auch ein Mensch mit einem hohen Körpergewicht durch bestimmte Verhaltensweise Privilegien „erkaufen“. Daher hat der Club der „guten Dicken“ auch einen so regen Zulauf.
Die verschiedenen Typen des „guten Dicken“
Allen „guten Dicken“ ist gemeinsam, dass sie sich mehr oder weniger erfolgreich der sozialen Ausgrenzung von Menschen mit einem hohen Körpergewicht entziehen. Doch die Gründe für eine gesellschaftliche Akzeptanz sind vielfältig. Sie lassen sich am besten mit den verschiedenen Typen der „guten Dicken“ erklären (ich übertreibe absichtlich etwas, um die Unterschiede deutlich zu machen).
Typ 1: Die „guten Dicken“, die gesund und sportlich sind
Die gesunden und sportlichen Dicken haben zwar ein hohes Körpergewicht, ihre Verhaltensweisen unterscheiden sich jedoch grundlegend von denen, die generell mit dicken Menschen in Verbindung gebracht werden (fälschlicherweise und stigmatisierend, wohlgemerkt!). Sie ernähren sich gesund, machen viel Sport, haben perfekte Blutwerte und ihre Körper sind stark und jeder Herausforderung gewachsen. Das sind die „Vorzeigedicken“, da sie jeder eingehenden Untersuchung standhalten. Sie sind diejenigen, über die wir reden, wenn wir sagen, dass sich Gesundheit, Sportlichkeit und Dicksein nicht ausschließen. Das sind die Dicken, die in der Gesellschaft am meisten akzeptiert sind.
Natürlich ist nichts daran verkehrt, gesund, sportlich und gleichzeitig dick zu sein. „Problematisch“ an ihnen ist, dass sie die Idee befeuern, dass Gesundheit eine Voraussetzung ist, um gesellschaftlich anerkannt zu sein. Doch auf der anderen Seite bringen die „guten Dicken“, die gesund und sportlich sind, auch die Body-Positivity- und Health-at-Every-Size-Bewegung voran: Da sie existieren, kann Dicksein nicht generell als „schlechte Sache“ hingestellt werden.
Typ 2: Die „guten Dicken“, deren Lebensaufgabe ist, endlich abzunehmen
Diese Spezies – zu denen wohl die meisten „guten Dicken“ gehören und bis vor kurzem auch ich – erzählt dir ständig von ihrer neuesten Diät oder „Ernährungsumstellung“, kann allgemein stundenlang über Essen, Diäten und Gewicht reden und geht regelmäßig zum Sport oder ins Fitnessstudio (bzw. hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es nicht macht). Die „guten Dicken“, deren oberste Priorität es ist, schlank zu werden, bezeichnen sich auch gerne als „work in progress“. Sie arbeiten hart daran, ihr „überflüssiges“ Körperfett loszuwerden und befinden sich eigentlich immer in der Transformation zum schlankeren Körper.
Diese „guten Dicken“ leben ihre Diätmentalität voll aus. Dass sie es trotzdem „nicht schaffen“ abzunehmen, liegt nicht daran, dass sie es nicht versuchen würden. Sie sind meistens äußerst diszipliniert. Der Grund ist, dass wir immer noch keine Methode gefunden haben, die zu einer langfristigen Gewichtsabnahme für die breite Masse führt. Diäten „wirken“ nur für eine kleine Minderheit länger als ein bis zwei Jahre [1]. Nach fünf Jahren haben 99% die „erfolgreich abgenommenen“ Kilos wieder drauf [2].
Sie bekommen von der Gesellschaft zwar nicht denselben „Freibrief“ zum Dicksein wie der „sportliche, gesunde Typ“, werden aber ebenfalls als „gute Dicke“ angesehen, das sie die gesellschaftlichen Kriterien für ein angestrebtes Dünnsein perfekt verkörpern. In aller Öffentlichkeit bemühen sie sich um einen schlanken Körper und entschuldigen sich für ihr Dicksein. Sie machen sich gerne auch mal öffentlich runter, indem sie auf ihre „Verfehlungen“ hinweisen: Beispielsweise, indem sie sich in den Bauchspeck kneifen und gleichzeitig jammern, wie viel sie heute wieder gegessen haben. Dann philosophieren sie stundenlang über mögliche Gründe, warum „sie es einfach nicht schaffen abzunehmen“. Zudem sind sie häufig hinter ihrem Rücken fiesen Lästerattacken ausgesetzt: „Die tut doch nur so gesund“ oder „Jetzt pickt sie in ihrem Salat rum, aber daheim zieht sich sicher die Tafel Schokolade rein“.
Zum Typ Nr. 2 gehören übrigens auch die Menschen, die sich ein Magenband einsetzen oder den Magen verkleinern lassen. Schlanksein ist ihnen so wichtig, dass sie dafür große gesundheitliche Risiken (bis hin zum Tod), sowie lebenslange gesundheitliche Einschränkungen in Kauf nehmen, um ihrem Ideal näherzukommen.
Typ 3: Die „guten Dicken“, die eine besondere Begabung haben, die ihr Gewicht „überstrahlt“
Jack Black, Beth Ditto, Rebel Wilson oder Melissa McCarthy – um spontan ein paar Namen zu nennen – sind alle dick und hätten – nach dem einen oder anderen Interview zu urteilen – auch nichts dagegen, schlanker zu sein. Doch ihre besondere künstlerische oder musikalische Begabung bewahrt sie vor einer Ausgrenzung aufgrund ihres Körpergewichts. Solange ihre Körper nicht zu sehr von ihrem Gesang oder ihrer schauspielerischen Leistung ablenken, sind sie in der Gesellschaft willkommen.
Doch sie bewegen sich auf einem dünnen Seil: Wie wir momentan bei Adele sehen, kann das gesellschaftliche Wohlwollen mit einem Mal umschlagen. In ihrem Fall, weil sie nach der Trennung von ihrem Ehemann stark abgenommen hat (aus welchen Gründen auch immer!) und ihr nun vorgeworfen wird, dass sie dadurch kein Vorbild mehr für die Body-Positivity-Bewegung sein kann. Viele andere Celebrities sehen sich dagegen einem Sturm der Entrüstung gegenüber, wenn sie es „wagen“ zuzunehmen. Gute Beispiele sind die Schauspielerinnen Jessica Simpson oder Kristie Alley.
Ihnen gegenüber stehen übrigens die „schlechten, berühmten Dicken“, die ihren Körper feiern. Sie denken nicht im Traum daran, dem momentanen gesellschaftlichen Standard zu entsprechen. Ihnen wird häufig vorgeworfen, Dicksein zu „propagieren“, weil sie keinerlei Anstalten machen, abnehmen zu wollen. Zwei prominente Beispiele sind die Rapperin Lizzo oder das Plus-Size-Model Tess Holiday.
Typ 4: Die „guten Dicken“, die „nichts dafür können“
Sie sind die „unglücklichen“ Dicken, deren hohes Körpergewicht außerhalb ihrer Kontrolle liegt. Dicksein, das einen anderen Grund als schiere „Faulheit“ hat, lässt sich noch irgendwie in unserer Diät-getriebenen Gesellschaft entschuldigen. Dazu gehören beispielsweise Krankheiten oder Medikamente, die zu einer Gewichtszunahme führen können: Beispielsweise das Lipödem (das als Krankheit meiner Meinung nach aber immer noch viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt), PCOS (polyzystisches Ovar-Syndrom) sowie Steroide oder bestimmte Anti-Depressiva.
Diese „guten Dicken“, die „nichts dafür können“, sind trotzdem häufig einer Stigmatisierung von Fremden ausgesetzt. Sie haben den Grund ihres hohen Körpergewichts schließlich nicht auf der Stirn tätowiert. Und Vorurteile sind in unserer Gesellschaft leider verbreiteter, als die Bereitschaft Mitgefühl oder Interesse an der individuellen Geschichte eines Menschen zu zeigen. Je nach Krankheit kann es ihnen zudem passieren, dass sie nicht ernst genommen werden und ihre Erkrankung als „Ausrede“ angesehen wird. Doch wenn sie „Glück“ haben, erhalten sie von der Gesellschaft eine Art „moralische Absolution“, sobald sie die Gründe für ihr hohes Körpergewicht erklärt haben.
Als „guter Dicker“ tust du niemandem einen Gefallen
Überlegst du dir gerade, dir dein Leben etwas zu „erleichtern“, indem du ein „guter Dicker“ wirst? Oder bist du vielleicht sogar schon ein einer? Dann muss ich dir leider sagen, ein „good fatty“ zu sein verschlimmert das Problem letztendlich nur noch. Denn gibt es „gute Dicke“, erschafft man dadurch im Gegenzug die „schlechten Dicken“. Dies legt den Grundstein für eine Zweiklassengesellschaft, mit der man allen Menschen mit hohem Körpergewicht ins Knie schießt. Man könnte jede Gruppe aufgrund eines bestimmten Merkmals in „gut“ oder „schlecht“ einteilen. Dann gäbe es zwei Arten von Brünetten, zwei Arten von großen Menschen, zwei Arten von grünäugigen Personen – doch wer würde schon sagen, dass große Menschen nur dann ok sind, wenn sie sich „gut um sich kümmern“ und „gesund sind“?
Ich glaube, dass eine Menge Leute diese Idee der „guten“ und „schlechten“ Dicken verinnerlicht haben, sei es bewusst oder unbewusst, und Menschen mit hohem Körpergewicht dementsprechend behandeln. Dicke Menschen in „gut“ und „schlecht“ einzuteilen, entspringt – entgegen der allgemeinem Meinung – keinem „Gesundheitsgedanken“, das ist reine Diskriminierung. Dicke Menschen sind nicht gesünder oder kränker als schlanke [3]. Es ist noch nicht mal klar, ob schlanke Menschen am gesündesten sind und am längsten leben oder ob ein höheres Körpergewicht nicht sogar vorteilhaft ist [4, 5]. Zimundest scheint es besser fett und fit zu sein als schlank und unfit [6]. Das Einzige, das wir sicher wissen, ist, dass Ausgrenzung, Vorurteile und Stigmatisierung Menschen krank machen – ganz unabhängig von ihrem Körpergewicht [7, 8].
Begrabe den „guten Dicken“ in dir
Dicke Menschen sind genauso unterschiedlich wie jede andere Gruppe, die ein einzelnes, körperliches Merkmal teilt, sei es Körpergröße, Haar- oder Augenfarbe. Es ist an der Zeit, die Guter-Dicker-Schlechter-Dicker-Vorstellung ins Jenseits zu befördern. Wie das? Beteilige dich beispielsweise nicht an Gesprächen, die sich um das (Ess-)Verhalten von Freunden, Verwandten oder Fremden drehen und unterbinde stigmatisierende Kommentare, wenn du dich dem gewachsen fühlst. Hast du ein hohes Körpergewicht, dann höre auf der Stelle auf, dich dafür zu entschuldigen – selbst, wenn du Dinge tust, die dich in den Augen der Gesellschaft zu einem „schlechten Dicken“ macht.
Doch der wichtigste Punkt ist: Hör auf, dich als „guter Dicker“ hinzustellen. Selbstverständlich „darfst“ du dick, sportlich und gesund sein. Du musst auch nicht für dich behalten, dass du Medikamente nimmst oder eine Krankheit hast, die ein höheres Körpergewicht begünstigen. Aber mach dir bewusst, dass wenn du dir irgendwo eine Eingliederung erschaffst, begünstigst oder verstärkst du möglicherweise gleichzeitig eine Ausgrenzung an einer anderen Stelle. Daher ist es wichtig, sich bewusst zu machen, wo und auf welche Weise wir soziale Anerkennung anstreben und wen wir eventuell dadurch „überfahren“. Das Ausleben eines „gesellschaftlich akzeptierten“ Verhaltens, das dicke Menschen in „gut“ und „schlecht“ einteilt, befeuert immer Stereotypen und treibt die Diätkultur und Gewichtsstigmatisierung weiter voran.
Was hältst du von der Einteilung? Kannst (oder konntest) du dich in einem Typus wiedererkennen? Oder kennst du vielleicht sogar noch mehr Typen von „guten Dicken“? Ich bin gespannt auf deine Meinung!
Danke so sehr für die Unterscheidung. Ich fühle auch so. Der „gute“ Dicke ist anerkannt und eigentlich auch die einzig ethisch vertretbare Person.
Ich glaube ein „guter“ Dicker ist auch, wer keine besonderen Ansprüche hat, sei es im Dating, im Job, bei Kleidung… denn was hat man denn schon selbst zu „bieten“?
Auch schön mit dem letzten Absatz des inneren guten Dicken. Den erwische ich des Öfteren noch in mir. Aber ist ja auch kein Wunder bei dieser jahrelangen Gehirnwäsche 😉
LG Jessica
Oh ja, das ist eine sehr gute Ergänzung mit den fehlenden Ansprüchen! Und es ist wirklich kein Wunder bei der Gehirnwäsche…