#bodypositive, #curvy, #selflove, #beautybeyondsize – Hashtags wie diese werden immer beliebter. Sich in seinem Körper wohlfühlen und zu sich stehen, auch wenn man vielleicht nicht dem gesellschaftlich akzeptierten Schönheitsideal entspricht, ist eine Botschaft, die vor allem über Instagram verbreitet wird und immer mehr Menschen und besonders junge Frauen anspricht. In der Theorie klingt das auch richtig toll, aber ist Body Positivity wirklich schon in der Gesellschaft angekommen? Hand aufs Herz: Feiern wir wirklich jeden Körper?

Die Gesundheit eines Menschen am Aussehen ablesen zu wollen, ist in etwa so, als würde man versuchen psychische Erkrankungen mit Hilfe eines Stimmungsrings zu diagnostizieren. Gesundheit und Krankheit sind so viel mehr als eine Zahl auf der Waage.

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Gilt Body Positivity nur bis zu einer gewissen Grenze?

Der Begriff Body Positivity ist momentan in aller Munde und bedeutet, dass man vorbehaltlos jeden Körper akzeptiert, genau so, wie er ist. Diese Art der Körperakzeptanz heißt jedoch nicht, dass man jeden Körper attraktiv finden oder jeden Makel an sich lieben muss. Es geht vielmehr darum, den eigenen Körper als wertvoll anzusehen und ihm (sowie jedem anderen Körper) Respekt entgegenzubringen, auch wenn er vielleicht nicht im gesellschaftlich akzeptierten Sinne schön ist. Nicht einfach in unserer heutigen Gesellschaft, in der Schlanksein ein Statussymbol ist, das durch „bewundernswertes“ und „tugendhaftes Verhalten“ erreicht wird.

Dicksein dagegen wird mit mangelndem Leistungswillen, Disziplinlosigkeit und Charakterschwäche gleichgesetzt. Diesen Glaubenssatz hat die Diätkultur tief in uns verankert und schürt den Irrglauben, dass nur schlanke Körper gesund und „gut“ sein können. Für viele Menschen gilt Body Positivity daher nur bis zu einer gewissen Grenze, die wohl ungefähr bis Größe 42/44 reicht. Sie entspricht der Kleidergröße der deutschen Durchschnittsfrau  (und übrigens auch der Kleidergröße der meisten sogenannten „Plus Size“ Models). Alles darüber kann doch einfach nicht gesund sein, oder?

Mein Körper? Meine Gesundheit? Meine Sache!

Zunächst einmal ist es so, dass die Gesundheit einer Person etwas völlig Privates ist. Sie geht niemanden etwas an. Punkt. Ungefragt zu kommentieren, dass jemand ungesund lebt oder aussieht, ist verdammt übergriffig und zudem äußerst respektlos. Außerdem ist der Versuch, die Gesundheit eines Menschen an seinem BMI ablesen zu wollen, in etwa so, als würde man versuchen, psychische Erkrankungen mithilfe eines Stimmungsrings zu diagnostizieren (danke @haes_studentdoctor für diesen GROSSARTIGEN Vergleich!). Es ist einfach unmöglich. Am Gewicht oder Aussehen eines Menschen lässt sich sein Gesundheitszustand nicht bestimmen. Es sagt nichts darüber aus, wie viel derjenige isst, wie häufig er Sport treibt oder wie fit er ist. Am Gewicht lässt sich noch nicht einmal ablesen, ob jemand überhaupt abnehmen will. Das Gewicht sagt nichts über einen Menschen aus und doch ist durch bloßes Hinschauen ein schnelles Urteil gefällt.

Gesundheit und auch Krankheit sind so viel mehr als eine bestimmte Zahl auf der Waage. Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen oder Krebs werden generell mit einem hohen Körpergewicht in Verbindung gebracht. Doch ein hohes Körpergewicht verursacht diese Erkrankungen nicht. Es gibt zwar Hinweise, dass stoffwechselaktives Bauchfett Mikroentzündungen im Körper begünstigt, die zum Beispiel das Depressionsrisiko erhöhen könnten. Aber umgekehrt könnte auch die Depression selbst für erhöhte Entzündungswerte sorgen. Oder neigt ein Mensch mit einer Depression dazu, sich mit Frustessen zu trösten, sodass er in Folge zunimmt?

Manche Wissenschaftler gehen sogar soweit, dass sie die übliche Kausalität umkehren: Nicht das hohe Körpergewicht sei verantwortlich für die mit einhergehenden Erkrankungen, sondern die Stigmatisierung verursacht die körperlichen Leiden. Die psychische Belastung durch diese gesellschaftliche Abwertung kann zu Depressionen, Angststörungen und oft sogar zu weiterer Gewichtszunahme führen, die die Abwärtsspirale weiter verstärken. Vor allem das in den Studien beschriebene herabgesetzte Selbstwertgefühl gilt als ein großer Risikofaktor für psychische Leiden wie Depressionen und Angststörungen. Niemand weiß genau, ob Stigmatisierung und Diskriminierung eventuell viel kränker machen als das Körperfett an sich.

Kardio-Fitness ist wichtiger für die Gesundheit als Gewicht

Ein weiteres Indiz, dass der Einfluss des Körpergewichts auf die Gesundheit und Lebenserwartung wahrscheinlich überschätzt wird, liefert eine Meta-Analyse von zehn Studien. Sie untersuchte den Zusammenhang von Body-Mass-Index (BMI, Körpergewicht in kg geteilt durch Körpergröße in m2) und Gesamtsterblichkeit. Das Fazit: Eine gute Kardio-Fitness ist für die Herz-Kreislauf-Gesundheit und die Lebenserwartung möglicherweise viel bedeutender als das Gewicht.

Statistisch gesehen lebt ein aktiver Mensch mit einem hohen Körpergewicht sogar länger als ein schlanker, inaktiver Mensch. Und bei guter Kardio-Fitness haben Menschen mit einem BMI im – per Definition – „übergewichtigen“ oder „adipösen“ Bereich ein ähnliches Risiko wie „normalgewichtige“ Menschen. (Anmerkung: Ich setze das in Anführungszeichen, denn wer kann schon bestimmen, was normal und was über der Norm ist.) Am schlechtesten schnitten übrigens die Couch-Potatoes ab: Sie hatten ein doppelt so hohes Risiko früher zu sterben als aktive Menschen und das ganz unabhängig vom Gewicht. Die Autoren der Meta-Analyse riefen daher ihre Wissenschaftskollegen, Ärzte und Beschäftige im Gesundheitsbereich auf, sich im Hinblick auf die Lebenserwartung mehr auf Sport und Bewegungsmaßnahmen zu konzentrieren und weniger auf solche, die rein der Gewichtsreduzierung dienen.

Verherrlicht Body Positivity ein hohes Körpergewicht?

Es ist noch ein langer Weg bis diese Tatsache in der Gesellschaft ankommen wird, aber Gesundheit und Schönheit existieren in vielen Formen und Größen. Und tatsächlich kann man sich ganz ohne Waage selbst wichtig nehmen und das eigene Wohlbefinden verbessern. Denn momentan hält sich noch hartnäckig das Vorurteil, dass man mit einer positiven Einstellung zu sich selbst „diesen krankhaften Zustand des Übergewichts“ verherrliche und sogar fördere.

Dick und gesund sein, das passt in den Köpfen vieler Menschen einfach nicht zusammen und sie scheinen in der Body-Positivity-Bewegung eine Verharmlosung „unausweichlicher“ gesundheitlicher Folgen von hohem Körpergewicht zu sehen. Body Positivity hat prinzipiell erst einmal gar nichts mit Gewicht oder Gesundheit zu tun und nur weil jemand seinen eigenen Körper akzeptiert, bedeutet das doch nicht automatisch ein hohes Körpergewicht zu verherrlichen. Und auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Man sieht einem Menschen von außen nicht an, wie es um seine Gesundheit steht. So wie es die „metabolisch gesunden Dicken“ gibt (engl. metabolically healthy obese, MHO), die ein völlig gesundes Blutbild haben und weder Gelenkschmerzen noch andere Erkrankungen, die mit höherem Körpergewicht in Verbindung gebracht werden, gibt es auch „kranke Schlanke“, bei denen trotz „Normalgewicht“ Blutzucker, Blutdruck oder Blutfette erhöht sind.

Es ist an der Zeit aufzuhören, Menschen zu sagen, sie seien ungesund, weil sie dick sind. Was soll das bringen? Es ist überheblich, es ist beleidigend und vor allem ist es spekulativ. Fat Shaming trägt nicht dazu bei, dass dicke Menschen Gewicht verlieren. Ganz im Gegenteil: Durch Stigmatisierung belastete Personen neigen stärker zu emotionalem Essen und haben größere Hemmungen, Sport zu treiben oder sich zu bewegen. Sie haben außerdem häufiger ein negatives Selbstbild, Essstörungen und Depressionen.

Body Positivity ist endlich mitten in der Gesellschaft angekommen. Aber Hand aufs Herz: Feiern wir wirklich JEDEN Körper?

Von einem Extrem ins nächste?

Doch was ist, wenn man nun Schwierigkeiten damit hat, den eigenen Körper zu akzeptieren oder ihn sogar schön zu finden und zu lieben? Niemand sagt, dass man von einem Extrem (den eigenen Körper zu hassen) in das andere (den eigenen Körper zu lieben) fallen muss. Den eigenen Körper vorbehaltlos zu akzeptieren ist unbestritten ein hohes Ziel. Wenn wir uns alle schön fühlen sollen, setzt das nicht wieder einen hohen, unerreichbaren und ungesunden Standard?

Hier setzt das Konzept der Body Neutrality an: Bei Body Neutrality geht es darum, die Bedeutung, die wir unserem Aussehen beimessen, zu reduzieren und das Selbstwertgefühl sehr viel weniger an die äußere Erscheinung zu koppeln. Dann haben ein paar Kilos rauf oder runter nämlich plötzlich viel weniger Auswirkungen auf unser Leben.

Anstatt also ständig zu analysieren, wer wie viel wiegt und Vermutungen anzustellen, ob jemand gesund ist oder nicht, wäre es viel hilfreicher, die Gewichtsstigmatisierung zu beenden und Körperakzeptanz bzw. Körperneutralität zu begrüßen. Wir könnten beispielsweise aufhören, negative Bemerkungen über den eigenen Körper zu machen. Besonders auch vor Kindern sollten wir allgemein vermeiden, schlecht über Körper zu sprechen (sei es der eigene oder ein fremder Körper), denn damit gibt man den Kindern das Gefühl, der Wert einer Person hängt von der äußeren Erscheinung ab. Vielleicht kommen wir irgendwann an den Punkt, an dem das Aussehen in unserer Gesellschaft zweitrangig wird. Das wäre doch mal was.

Was denkt ihr? Könnt ihr euch vorstellen, dass dick und gesund Hand in Hand gehen können?