„2019 habe ich eine große Menge Gewicht verloren und es war fast so als hätte mein Leben vorher nicht existiert. Mein erfolgreich abgeschlossenes Studium, die abgeschlossene Finanzierung unseres Hauses, mein toller Job oder dass ich drei Kinder großgezogen habe – all das war gefühlt nichts mehr wert, denn es verblasste neben dieser Gewichtsabnahme. Für nichts wurde ich in meinem Leben jemals auch nur ansatzweise so gelobt und gefeiert wie für diesen neuen, schlanken Körper. Kannst du dir vorstellen, wie sehr ich mich geschämt habe, als ein Kilo nach dem anderen und dann noch ein bisschen mehr zurückkam? Alles andere, was ich mir bisher in meinem Leben vorgenommen habe, habe ich auch geschafft, aber mein Körper ist diese eine Sache, die ich einfach nicht auf die Reihe kriege.“

Diese Geschichte teilte vor einer Weile eine Klientin mit mir und seitdem lässt mich ein Gedanke nicht mehr los: Warum scheint Schlanksein eine der größten Leistungen zu sein, die jemand nur erbringen kann? Und wenn ich es nicht schaffe, abzunehmen (und das niedrigere Gewicht zu halten), habe ich mich dann wirklich einfach nicht genügend angestrengt?

In unserer Gesellschaft werden bestimmte Verhaltensweisen im Zusammenhang mit dem Versuch, das momentane Schönheitsideal zu erreichen, als Leistungsakt angesehen und können damit als Verkörperung unserer Leistungskultur verstanden werden. Das Problem dabei: Wir haben uns eine Gesellschaft aufgebaut, in der der Druck von außen riesig und die Erwartungen unerreichbar sind. Nur eine von 40.000 Frauen hat natürlicherweise den Körper eines ultraschlanken Laufstegmodels. Alle anderen müssen mehr oder weniger nachhelfen. In unserer Kultur, die dick_fette Körper ablehnt, sucht sich kaum jemand freiwillig aus mehrgewichtig zu sein und selbstverständlich lässt sich der Körper zu einem gewissen Grad durch Ernährung und Bewegung „formen“. Aber nicht jede Person kann das umsetzen, ohne die eigene körperliche oder geistige Gesundheit aufs Spiel zu setzen. In  jedem Körper und jedem Menschen steckt eine eigene Geschichte und das Körpergewicht hat – wenn sich jemand die Mühe macht, genauer hinzusehen – meist herzlich wenig mit “falscher Ernährung” oder zu wenig Bewegung zu tun.

Wie ist Leistung definiert?

In der Physik versteht man unter Leistung die Arbeit (oder Energie), die pro Zeiteinheit erbracht (oder freigesetzt) wird und spätestens mit dieser Definition sollte klar sein, warum das Körpergewicht keine Leistung ist. So viele Menschen stecken so viel Kraft, Zeit und Energie in Diäten, bringen unfassbare Willenskraft auf und zeigen Organisationsvermögen, Selbstdisziplin, Willenskraft, Stärke, Genauigkeit, Gründlichkeit, Zielorientierung, Impulskontrolle. Warum es trotzdem häufig nicht klappt mit dem nachhaltigen Gewichtsverlust? Weil Gewicht kein Verhalten ist und unsere Körper evolutionär bedingt gar nicht dafür ausgelegt sind, vorsätzlich eine große Menge Gewicht zu verlieren. Ganz im Gegenteil: Der Körper hält mit aller Kraft an den Reserven fest und macht es uns so schwer wie möglich, die restriktive Ernährungsweise durchzuhalten. Es geht hier übrigens nicht darum, irgendwelche Entschuldigungen oder Ausreden vorzuschieben, sondern in guter alter Wissenschaftsmanier von allen Seiten auf eine Sache zu schauen und mögliche andere Erklärungen in Erwägung zu ziehen. Erklärungen, die hoffentlich dazu führen, anderen Menschen – und auch sich selbst – mit mehr Empathie und Respekt zu begegnen. Wie leicht oder schwer es ist, dem aktuellen Schönheitsideal zu entsprechen, bestimmen zum Großteil Faktoren, die nicht innerhalb der eigenen Kontrolle liegen. Dazu gehören Genetik, bestimmte Umweltfaktoren, bestimmte Erkrankungen, Traumata, die Vergangenheit, Essstörungen, Ethnizität, sozioökonomischer Status, Stigmatisierung, Diskriminierung, Schlafverhalten, Stressmanagement, Resilienz und noch mehr.

Meine Klientin hat übrigens mittlerweile erkannt, dass Schlanksein keine Leistung ist, die sie erbringen muss, um geliebt zu werden und sich auch selbst akzeptieren zu können. Sie hat Diäten hinter sich gelassen und „bearbeitet“ nicht mehr ihren Körper, sondern ihren Selbstwert. Aber warum ist es überhaupt so wichtig, einen hohen Selbstwert zu haben? Wir versuchen immer, von außen nach innen zu leben. Wir versuchen, unser Äußeres, unseren Körper zu perfektionieren und hoffen dann, dass wir uns dann endlich akzeptieren können und glücklich sind. Das funktioniert aber so herum nicht, weil dann die Akzeptanz und unser Glück immer an Bedingungen geknüpft sind. Wer sich dagegen selbst bedingungslos akzeptiert, ja vielleicht sogar liebt (auch wenn das überhaupt kein Ziel sein muss), kümmert sich ganz automatisch gut um sich selbst, versucht die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen und für sich einzustehen. Wer verinnerlicht hat, einfach als Person wertvoll zu sein – nicht weil man etwas geleistet hat, sondern einfach nur aufgrund der Tatsache, dass man existiert – kann aus Freude und aus Respekt zu sich selbst Entscheidungen treffen. Das bestätigen auch Studien: Menschen mit einem positiven Körperbild ernähren sich abwechslungsreicher und ausgewogener, bewegen sich mehr und wählen allgemein gesündere Verhaltensweisen.

Das Selbstbild und den Selbstwert steigern (lernen)

Ein positives Körperbild wirkt sich also positiv auf das Wohlbefinden aus und dient der Gesundheit. Mit den folgenden acht Anregungen kannst du deinen Selbstwert und dein Selbstbild steigern:

1. Lege dein Schwarz-Weiß-Denken ab

In unserer leistungsorientierten Gesellschaft wird das Streben nach Perfektionismus belohnt. Auch ich habe lange versucht „perfekt“ zu sein und hatte dabei immer diese kleine Stimme im Hinterkopf, die mir gesagt hat: „Mach das noch besser, streng dich mehr an, die anderen erwarten das von dir, du musst Leistung bringen, du musst das ‚Richtige‘ essen, du musst auf eine ganz bestimmte Art und Weise aussehen und wenn alles erledigt und ‚perfekt‘ ist, dann darfst du zur Ruhe kommen und dann darfst du dich entspannen und glücklich sein und dann wirst du geliebt.“ Es gibt aber ein sehr wirksames Gegenmittel, das diese kleinen, bösen Stimmen verstummen lässt und das ist Selbstmitgefühl – ein Begriff, den Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der Universität von Texas in Austin, geprägt hat.

2. Überprüfe deine Glaubenssätze

Kennst du schon „The Work“ von Byron Katie? Kurz erklärt sind das vier Fragen und eine spezielle Umkehrtechnik, um negative Glaubenssätze zu bearbeiten. Haben wir negative Glaubenssätze verinnerlicht, suchen wir unbewusst immer und immer wieder nach der Bestätigung, dass diese Glaubenssätze wirklich stimmen. Das wirkt sich auf unsere Handlungen und Entscheidungen aus – im schlimmsten Fall mit dem Ergebnis, dass wir uns selbst ein Bein stellen und unbewusst positive Veränderungen verhindern. Die vier Fragen sind:

  1. Ist das wirklich wahr?
  2. Kann ich absolut sicher wissen, dass es wahr ist?
  3. Wie verhalte ich mich, wenn ich das glaube?
  4. Wer wäre ich ohne diesen Gedanken?

3. Schreibe Dankbarkeitstagebuch

Ein Dankbarkeitstagebuch gibt uns die Möglichkeit, unsere Welt und unser Leben positiv wahrzunehmen, wieder schätzen zu lernen und gibt uns (zu Recht!) das Gefühl, dass wir selbst Einiges zu unserem eigenen Glück beitragen können. Schon ein paar Minuten pro Tag reichen. Stell dir dafür bspw.
die folgenden Fragen:

  1. Für welche drei Dinge bin ich heute dankbar?
  2. Was hat mich heute glücklich gemacht?
  3. Was hätte ich heute gebraucht?
  4. Wer/was gibt mir ein gutes Gefühl?

4. Steh für deine Bedürfnisse ein

Versuchst du es immer allen recht zu machen? Fehlt dir etwas, um glücklich zu sein? Bist du unsicher, ob du überhaupt weißt, was dich glücklich macht? Dann könnte es sein, dass deine (Grund-) Bedürfnisse nicht befriedigt sind. Das ist jedoch die Voraussetzung, damit du Frieden mit dem Essen und deinem Körper schließen kannst. Wenn du dir selbst die Erlaubnis gibst, dich zur Priorität zu machen, wirst du glücklicher und selbstbewusster werden.

5. Versuche Stress zu reduzieren oder besser damit umzugehen

Stress gilt in der heutigen Welt als bedeutender Auslöser für viele Erkrankungen. Als Krankheiten im Zusammenhang mit Stress werden beispielsweise genannt: Herzkrankheiten, Asthma, Kopfschmerzen, Depressionen, Angststörungen, Verdauungsbeschwerden, vorzeitiger Tod. Interessanterweise alles Krankheiten, die mit einem hohen Körpergewicht in Zusammenhang gebracht werden. Aber ist das hohe Körpergewicht auch die Ursache dieser Erkrankungen? Tatsächlich lassen sich die meisten Erkrankungen, die mit einem hohen Körpergewicht in Verbindung gebracht werden, auch größtenteils durch andere Faktoren erklären. Um Stress zu reduzieren oder zumindest besser damit umzugehen, gibt es mehrere Ansatzpunkte. Bspw. kannst du versuchen, deinen Stress zu reduzieren, indem du die Situation aus verschiedenen Perspektiven betrachtest. Stell dir dafür bspw. die folgenden Fragen:

  1. Ist das, was ich gerade tue oder vorhabe, wirklich wichtig?
  2. Welche Priorität räume ich dem ein?
  3. Ist meine Erwartungshaltung realistisch?
  4. Gibt es eine Möglichkeit, die Situation oder die Tätigkeit so zu ändern, dass sie erfüllender, wertschöpfender oder aus anderen Gründen sinnvoller wäre? Welche ist das?

6. Verbinde dich wieder mehr mit deinem Körper

Viele Menschen denken, dass Körperakzeptanz bedeutet, dass man sich selbst immer super findet, alle Fotos von sich selbst mag, immer selbstbewusst ist, keine schlechten Körperimage-Tage hat und sich total im Bikini wohlfühlt. Ja, das können Anzeichen sein, dass jemand den eigenen Körper akzeptiert. Körperakzeptanz ist aber so viel mehr. Es geht darum, dass du deinen Wert nicht von deinem Aussehen abhängig machst und dass du dich von deinem Körper nicht davon abhalten lässt, dein Leben zu leben und es idealerweise in vollen Zügen zu genießen.

7. Schaffe dir eine Umgebung, in der Körperakzeptanz möglich ist

Körperakzeptanz ist keine Frage des Aussehens oder des Körpergewichts, sondern eine innere Haltung, die das Selbstwertgefühl nicht an das eigene Aussehen koppelt und dazu führt, sich zu fragen, was der Körper braucht und ihm guttut. Das Gefühl der Akzeptanz soll zu einem entspannten, natürlichen Umgang mit dem eigenen Körper führen. Damit Körperakzeptanz möglich ist, musst du dir eine Umgebung schaffen, die dich darin bestärkt, deinen Körper zu respektieren. Du kannst bspw. deinen Social Media Feed ausputzen und allen Accounts entfolgen, die dir das Gefühl geben, nicht gut genug zu sein und sprich mit dir selbst so, wie du mit deinem liebsten Menschen auf der Welt sprichst.

 

8. Trage Kleidung, die dir passt und in der du dich wohlfühlst

Entsorge die Kleidung, die dir nicht passt oder in der du die ganze Zeit an dir rumzupfst, weil du dich irgendwie unwohl fühlst. Falls du die Kleidung (noch) nicht weggeben kannst, dann nimm sie zumindest aus deinem Blickfeld. Style ist keine Frage der Kleidergröße. Vermutlich ist deine Kleidergröße sogar das Uninteressanteste an dir. Du bist so viel mehr als nur eine Zahl auf der Waage und hast der Welt so viel mehr zu bieten.

Dieser Beitrag ist im Rahmen der Aktion #rotesKleid entstanden. Rote Kleider, während der Aktion von Frauen auf der ganzen Welt genäht und getragen, machen die Frauen sichtbar, die sich nicht länger in den Hintergrund drängen lassen. Denn die aktuellen gesellschaftlichen Probleme sind viel zu groß, um das Gestalten der Welt den Männern zu überlassen.

Fangen wir an, die Welt zu verändern – mit Mut, Optimismus und Lebensfreude. Zeigen wir Stärke und behaupten wir unseren Platz in der Welt.

#werbungunbezahltundunbeauftragt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert