Die Diätkultur kann weg

Es gibt Leute, die sagen, die Diätkultur existiere gar nicht mehr. Schließlich wisse doch jeder, dass Diäten nicht wirken. Diätkultur bedeutet aber nicht einfach nur „auf Diät sein“. Der Begriff Diätkultur beschreibt eine Reihe von Glaubenssätzen, die den Wert eines Menschen in erster Linie über das bestimmte Aussehen seines Körpers definiert. Schlanksein wird als Statussymbol verehrt und gleichgesetzt mit Gesundheit, Schönheit, Fitness, Erfolg und moralischer Überlegenheit. Laut Diätkultur ist nur ein schlanker Mensch auch ein guter Mensch. Und jemand mit einem hohen Körpergewicht kann nicht gesund sein.

Anfang der 2000er Jahre wandten sich immer mehr Menschen von Diäten ab. Die Diätindustrie reagierte mit einer neuen und schlauen Strategie darauf. Sie legte ihren Fokus auf Gesundheit und Wellness. Das Abnehmen war angeblich gar nicht mehr das Ziel. Das Versprechen war: Wer „richtig“ (= „gesund“) isst, nimmt quasi als Nebenwirkung und von ganz alleine ab und erreicht den Traumkörper. Doch nur weil nicht mehr Diät draufstand, war immer noch Diät drin: Diäten nannten sich bloß nicht mehr so und tarnten sich von nun an als gesunde Verhaltensweisen, Ernährungsumstellung oder als neuer Lebensstil, also Lifestyle.

Falls du dir jemals überlegt hast, was wohl ein Lifestyle zu einer Diät sagen würde, hier kommt die Antwort:

Aber auch wenn sich die heutigen Diäten nicht mehr als solche bezeichnen, sind sie immer noch Teil des Glaubenssystems, das die Menschen in unserer Gesellschaft veranlasst, nach dem „idealen Körpertyp“ zu streben. Dabei ist es noch nicht einmal sicher, ob schlanke Menschen wirklich am gesündesten sind und am längsten leben. Eventuell ist ein höheres Körpergewicht sogar vorteilhaft. Studien zeigen, dass dicke Menschen nicht gesünder oder kränker sind als schlanke. Doch die Diätkultur hat dieses Bild bereits in den Köpfen verankert. Sie bestärkt weiterhin die Annahme, dass Gewicht zu verlieren in jedem Fall gesünder machen würde.

Health at Every Size gibt dir die Antwort auf die Frage, was du für deine Gesundheit und dein Wohlbefinden tun kannst, wenn du Diäten hinter dir lässt.

Dr. Antonie Post

Dipl.-Ernährungswissenschaftlerin

Diäten machen krank statt schlank

Diäten führen aber nur in den seltensten Fällen langfristig zu einem schlankeren Körper: Über 95 Prozent aller Diäten scheitern und zwei Drittel wiegen nach einer Diät sogar mehr als vorher. Der Jo-Jo-Effekt ist eine gesunde und natürliche Schutzmaßnahme des Körpers, um für die nächste Hungersnot vorzusorgen. Daher machen Diäten vielleicht kurzfristig schlank, aber langfristig dick.

So lange unser Gesundheitssystem dicke Menschen nur als ihren BMI sieht, ist es kein Wunder, dass Menschen mit einem höheren Körpergewicht statistisch gesehen kränker sind als schlanke. Wer Voreingenommenheit und Diskriminierung beim Arzt erlebt hat, geht im Zweifelsfall das nächste Mal nicht mehr hin. Im schlimmsten Fall verschwendet er kostbare Zeit, in der die Krankheit weiter fortschreitet. Wir verschwenden unser Geld, Zeit und Energie, um einem „Ideal zu entsprechen, das gerade mal 5 Prozent der Menschen auf gesunde und natürliche Weise erreichen können. Warum hören wir nicht damit auf und widmen uns stattdessen den wirklich wichtigen Dingen im Leben?

Eine Abnahme zu „verschreiben“ macht die meisten Menschen weder schlanker noch gesünder. Weniger als fünf Prozent der Menschen können ihr Gewicht nach einer Diät halten und das liegt weder an der Willenskraft, noch an der Diziplin oder daran, dass sich dicke Menschen nicht anstrengen würden. Ganz im Gegenteil: Unser Körper schützt uns vor dem Verhungern – denn nichts anderes ist eine Diät oder restriktive Ernährungsweise für ihn – indem er den Grundumsatz senkt und durch Hormone wie Leptin und Ghrelin die Sättigung verzögert und den Hunger anregt. Der Körper lässt sich nicht austricksen und sich auf die Zahl auf der Waage zu fixieren, hilft niemandem. Tatsächlich geht das eher nach hinten los, denn eine Fixierung auf das Gewicht fördert Esstörungen, Angststörungen, Versagensängste und langfristig in den meisten Fällen eine Gewichtszunahme.

Wir ackern seit Jahrzehnten an der Figur und der Gesundheit von mehrgewichtigen Menschen rum, ohne wirklich etwas zu bewegen. Wir streiten darüber, ob Dicksein ungesund ist und zeigen mit dem Finger auf dicke Menschen. Und was hat uns das gebracht? Ganz genau: Nichts. Aber wir können den Krieg gegen das Fett gewinnen. Und zwar, indem wir den Kampf aufgeben und direkt gesundheitsfördernde Verhaltensweisen wählen, anstatt den unsinnigen Umweg über das Gewicht zu nehmen.

Was ist eigentlich Health at Every Size®?

Aber es gibt eine Alternative und die heißt Health at Every Size® (kurz HAES®). HAES ist keine Diät, sondern der absolute Gegenentwurf zur Diätkultur. HAES ist eine gewichtsneutrale, medizinisch erprobte Anleitung zu mehr Body Positivity, Gesundheit und Wohlbefinden. Immer mehr wissenschaftliche Studien zeigen, dass es möglich und sinnvoll ist, unabhängig vom Gewicht die eigene Gesundheit zu verbessern. Es ist zwar möglich, dass einzelne Menschen Gewicht verlieren, wenn sie mit dem HAES-Ansatz allgemein gesündere Lebensgewohnheiten entwickeln und das ist auch völlig ok. HAES ist nicht gegen eine Abnahme, wenn jemand gesündere Gewohnheiten in sein Leben integriert, eine konkrete Gewichtsabnahme wird aber nicht angestrebt.

Die Hauptkomponenten von HAES, und das individuell bestmögliche körperliche und geistige Wohlbefinden zu erreichen, sind:

             1. Körperakzeptanz unabhängig von Größe, Umfang oder Körperform

             2. intuitive Ernährung, die den natürlichen Umgang mit Nahrung stärkt

             3. körperliche Bewegung, bei der der Spaß im Vordergrund steht

Health at Every Size hat seine Ursprünge in den 1970 Jahren in der Fett-Akzeptanz-Bewegung. 2003 hat die Association for Size Diversity and Health (ASDAH) die HAES-Prinzipien konkret in Worte gefasst und sich die Begriffe Health at Every Size und HAES markenrechtlich schützen lassen. Die ASDAH, eine gemeinnützige Organisation, will eine Zukunft erschaffen, in der die Gesellschaft Körper aller Größen und Formen feiert, in der Körpergewicht kein Anlass mehr für Diskriminierung ist und in der sozial benachteiligte und unterdrückte Gemeinschaften einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheit haben.

Wirklich bekannt wurde HAES aber erst durch das Buch „Health at Every Size: The Surprising Truth about your Weight“ von Dr. Lindo Bacon (früher Linda Bacon), das bisher aber leider nur auf Englisch erschienen ist. Die Kernbotschaft des Buches ist, dass nicht das Körpergewicht dicke Menschen krank macht, sondern Diäten und eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, verschiedene Körper zu akzeptieren.

Edit 17.03.2022: Ich unterstütze Lindo Bacon derzeit nicht angesichts der jüngsten Berichte über their Verhalten gegenüber mehrgewichtigen und/oder BIPOC-Personen. Grundsätzlich unterscheiden sich their privates Verhalten sehr von den Worten, die Lindo an die Öffentlichkeit richtet. Ich hoffe, dass Lindo Verantwortung für die unangemessenen Handlungen übernimmt. Bis dahin entziehe ich meine Unterstützung.

Health at Every Size® (HAES®)

ist ein gewichtsneutraler Ansatz ...​

... der körperliche Vielfalt akzeptiert und respektiert und weder ein bestimmtes Körpergewicht schlechtmacht, noch ein anderes verherrlicht​

lehnt es ab ...

... Menschen „die Schuld“ an ihrer Gesundheit zu geben

unterstützt gesundheitsorientierte Verhaltensweisen ...

... die in einem wirklich ganzheitlichen Konzept zu mehr Wohlfinden beitragen und die individuellen körperlichen, emotionalen, sozialen, spirituellen und wirtschaftlichen Bedürfnisse berücksichtigt

erkennt die Voreingenommenheit von Gesundheitsdienstleistern ...

... wie Ärzten oder Ernährungsberatern an und arbeitet daran, Diskriminierung und Stigmatisierung aufgrund des Gewichts oder einer anderen Eigenschaft der eigenen Identität aufzuheben

berücksichtigt Identität und Verschiedenheit der Menschen ...

... unter anderem ethnischer Hintergrund, Geschlechtsidentität, sozioökonomischer Status und wie diese Identitäten mit Gewichtsstigmatisierung in Beziehung stehen

unterstützt ein positives Verhältnis zu Bewegung ...

... das Menschen aller Größen, Formen und Fähigkeiten erlaubt, sich nach ihren eigenen Maßstäben körperlich zu betätigen

empfiehlt Intuitive Ernährung ...

... und ein genussvolles Verhältnis zum Essen und nimmt Abstand von „Essensplänen“ und Verhaltensweisen, die darauf abzielen, den Körper zu „schrumpfen“

ist als Begriff markenrechtlich geschützt ...

... seit 2003 von der Association for Size Diversity and Health

Ausgewählte Podcast-Episoden und Blog-Posts zu Health at Every Size

So, jetzt bist du neugierig geworden und weißt aber nicht so recht, wo du anfangen sollst? Kein Problem: Im Iss doch, was du willst! Podcast gibt es bereits einige Episoden zu den Prinzipien und der Entstehung von Health at Every Size. Hier kannst du reinhören:

Health at Every Size: Gesundheitskonzept oder Persönlichkeitsentwicklung?

Bei den allermeisten Diäten geht es nur darum, das eigene Verhalten zu ändern. Entweder gibt die Diät das Versprechen: Hier ist ein ganz konkreter Plan und wenn du dich an ihn hältst, dann wirst du Erfolge sehen. Oder es wird die Schiene gefahren “Abnehmen beginnt im Kopf” und der Zugang zu der Diät erfolgt über die Psyche. Dann wird reflektiert, wie, was, wann und auf welche Weise man isst und “wie man es besser machen kann”. Meistens gibt es dafür dann auch wieder einen konkreten Plan. Diäten übersehen aber eine Sache völlig und das ist meiner Meinung nach auch einer der Hauptgründe dafür, warum sie nicht funktionieren: Jede Art der restriktiven Ernährung hindert Menschen daran, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszuleben. Erfüllte Bedürfnisse sind jedoch die Voraussetzung für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit.

Ist Health at Every Size nur eine Notlösung für diejenigen, die zu blöd zum Abnehmen sind?

Kommst du langsam ins Schwitzen, weil der Sommer nicht mehr weit ist, du aber das Gefühl hast, du müsstest dringend noch ein paar Kilos abnehmen? Doch bevor du jetzt gleich mit deiner nächsten Diät, „Ernährungsumstellung“ oder wie auch immer du es nennen magst, loslegst, beantworte bitte noch die drei folgenden Fragen: Wie viele Diäten hast du in deinem Leben schon gemacht? Wie viel hast du dabei abgenommen? Und wie viel war von der Abnahme nach einem halben Jahr, einem Jahr und nach fünf Jahren noch übrig? Hm, dachte ich mir. Hätten Diäten in der Vergangenheit für dich funktioniert, dann würdest du das hier wahrscheinlich gerade nicht lesen. Doch es gibt eine Alternative.

Wie sich Body Positivity von Selbstliebe unterscheidet (und noch ein paar andere wichtige Begriffe der Anti-Diät-Bewegung)

Body Positivity, Fat Acceptance, Health at Every Size: Die Anti-Diät-Bewegung hat einige Begriffe mit im Gepäck, die immer häufiger genutzt werden. Was diese Begriffe aber genau bedeuten, ist nicht unbedingt jedem klar. Ein Beispiel: Body Positivity wird sehr häufig mit Selbstliebe gleichgesetzt. Doch das ist so nicht ganz richtig. Body Positivity kann zwar Selbstliebe beinhalten, muss aber nicht, und der Begriff geht noch weit darüber hinaus. Body Positivity lässt sich wohl am ehesten mit Selbstakzeptanz oder Körperakzeptanz übersetzen und beinhaltet, dass das Aussehen und der Wert eines Menschen zwei völlig verschiedene Dinge sind. Das bedeutet: Auch wenn der eigene Körper vielleicht nicht im gesellschaftlich akzeptierten Sinne schön ist, wird ihm Respekt und Akzeptanz entgegengebracht. Er wird als vorbehaltlos wertvoll angesehen.

Foto von Tahiti Spears auf Unsplash

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